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MACHT UNS BITTE NICHTS VOR

Nimdzi Insights

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Ich bin inzwischen seit einer ganzen Weile im Bereich Sprachdienstleistungen tätig und dachte daher, dass ich bereits alle am Markt vertretenen Translation-Memory-Systeme gut kenne. Eine Zeit lang lag ich damit auch richtig. Doch inzwischen scheint fast wöchentlich ein neuer Anbieter für Sprachtechnologie aufzutauchen. Das sind gute Neuigkeiten für die Branche, da wirkliche Innovationen in diesem Bereich seit langem überfällig sind. Dabei ist es nicht immer leicht, stets auf dem aktuellen Stand der Technologie zu bleiben. Manchmal fühle ich mich wie ein alter Mann im Schaukelstuhl, der über die ganzen neumodischen Entwicklungen nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Höre ich da einige Lacher? Ich bin mir sicher, dass das einige von Ihnen nachempfinden können!

Jedes Mal, wenn ich Facebook öffne (vom Sprung zu Snapchat möchte ich gar nicht anfangen …), bekomme ich die Anzeige eines bestimmten Übersetzungsunternehmens angezeigt, von dem ich vorher noch nie gehört habe. Und wenn ich „jedes Mal“ sage, ist das keine Übertreibung. Es handelt sich um eine wirklich aggressive Werbekampagne. Die Anzeige ist mir sogar auf anderen Seiten begegnet und in Bannern und Pop-ups aufgetaucht, während ich einfach ein wenig gesurft habe. Sie verfolgt mich buchstäblich. Es hört nicht auf. Ich möchte nur in Ruhe den neuesten Star Wars Trailer schauen, doch diese blöde Anzeige lässt nicht locker.

So habe ich dem Druck schließlich nachgegeben (ja, am Ende tue ich meist doch, was Facebook mir sagt) und auf die Anzeige geklickt. Ich wollte wissen, worum es dabei ging. Die Website sieht gut aus. Es wird detailliert erklärt, wie die neue innovative Plattform Features wie eine „integrierte Rechtschreibprüfung“ und so genannte „Translation Memorys“ bereitstellt. Wenn ich ganz ehrlich bin: Wäre ich jemand anderes (mit weniger Erfahrungen in der Branche), würde dieses Produkt einen verdammt guten Eindruck auf mich machen.

Aber ich bin nicht jemand anderes. Ich bin ich. Ich habe vielleicht 10 Minuten gebraucht, um zu bemerken, dass es sich noch nicht einmal um ein neues Übersetzungsunternehmen handelt. Die Anzeige warb in Wirklichkeit für eine Plattform für maschinelle Übersetzung. Ah, ok! Warum nicht? Maschinelle Übersetzung ist großartig! Aber… Was mich misstrauisch machte war, wie lange ich brauchte, um zu bemerken, dass keine menschlichen Übersetzer beteiligt sind. Den Inhalten der Website nach zu urteilen, könnte jeder unerfahrene (durchaus halbwegs intelligente) Kunde leicht zu dem Schluss kommen, dass hier menschliche Übersetzungen angeboten werden. Tatsächlich beschäftigen sich im Allgemeinen nur wenige Kunden mit dem Unterschied zwischen maschineller und menschlicher Übersetzung – genau genommen erst dann, wenn schlechte Übersetzungen ihre internationalen Kunden zur Weißglut treiben.

Schließlich habe ich begonnen, mir die beworbenen Funktionalitäten dieser Plattform etwas genauer anzusehen. Hier nur einige davon:

Automatische Formatierung übersetzter Dokumente

Was dahintersteckt: Nein. Nein, sie werden nicht automatisch (von Zauberhand) formatiert. Diese schamlose Irreführung (wenn nicht gar glatte Lüge) finde ich verstörend. Wenn man die Werbevideos auf YouTube an der richtigen Stelle pausiert, kann man deutlich zusätzliche Zeilenumbrüche und fehlende Leerzeichen nach Satzzeichen in den gezeigten Übersetzungen erkennen. Beachten Sie, dass ich nicht extra danach gesucht habe. Ich habe mir nur ein Video angesehen, das eigentlich zeigen sollte, wie toll das Produkt doch arbeitet.

Selbstlernende [maschinelle] Übersetzung

Was dahintersteckt: Hier geht es um trainierbare Engines für die maschinelle Übersetzung (MÜ). Allerdings findet sich kein Hinweis darauf, dass natürlich menschliche Übersetzer für das Post-Editing benötigt werden. Die Website vermittelte den Eindruck, als handele es sich um ein Kinderspiel. Dabei wissen wir alle, dass es menschliche Übersetzer braucht, um eine MÜ-Engine zu trainieren. In neun von zehn Fällen werden Sie dafür einen Sprachdienstleister beauftragen. Jeder Sprachdienstleister, der etwas auf sich hält, wird dabei bereits seine eigenen Prozesse zum Training und zur Wartung von MÜ-Engines entwickelt haben, die es ihm erlauben, effizient zu arbeiten. In diesem Fall aber werden Sie den Dienstleister dazu bringen müssen, mit einem Tool zu arbeiten, von dem er noch nie gehört hat. Viel Spaß dabei.

„Innovative“ Translation Memorys

Was dahintersteckt: Wirklich? Translation Memorys? Innovativ? Befinden wir uns im Jahr 1993? Ich brauche das nicht weiter kommentieren. Es macht mich sprachlos …

Ich könnte noch weitermachen, aber ich belasse es bei diesen Beispielen. Ich denke, ich habe genug Informationen zusammengetragen, um ein Urteil zu fällen. Und wie lautet mein Urteil?

Nun, mein Urteil lautet, dass das Tool eigentlich einen ganz guten Eindruck macht. Das System bietet selbstlernende maschinelle Übersetzungstechnologie im Abomodell zusammen mit einer Übersetzungsumgebung (CAT-Tool) und einigen grundlegenden Qualitätssicherungswerkzeugen wie einer Rechtschreibprüfung. Der Abschluss eines Abonnementvertrags (zu einem vernünftigen Preis) ermöglicht weiterhin den Zugang zu den APIs des Herstellers, sodass sich das System nahtlos in existierende Workflows integrieren lässt. Die Plattform sieht gut aus. Nichts, was die Übersetzungsbranche revolutionieren würde, aber trotzdem ganz nett. Da es sich um ein neues Unternehmen handelt, sind vielleicht noch nicht sämtliche Features verfügbar, aber ok, jeder muss schließlich irgendwo anfangen. Ich freue mich über neue Player am Markt für Übersetzungstechnologien, da es in diesem Bereich leider schon lange keine echten Innovationen mehr gab. Vielleicht braucht es ja nur ein wenig Wettbewerb von neuen Marktteilnehmern wie diesem, um neue Innovationen anzuregen.

Was mir allerdings nicht gefällt, ist ein Trend, den ich nicht nur bei diesem nicht genannten Unternehmen, sondern bei vielen Startups in der Branche beobachte. Es handelt sich um diese neue Botschaft, dass Übersetzung automatisierbar und kinderleicht sei. Das ist einfach falsch. Wenn sie richtig gemacht wird, ist Übersetzung ein komplexer und manchmal sogar chaotischer Prozess. Das ist freilich heutzutage keine besonders populäre Meinung – vor allem wenn man auf der Seite der Lieferanten (Sprachdienstleister) steht. Einkäufer von Sprachdienstleistungen wussten eigentlich immer, dass Übersetzung komplex ist. Denn schließlich ist das der Hauptgrund, aus dem Sie die Dienstleister überhaupt beauftragt haben: um von ihrer Expertise zu profitieren und das „Kopfzerbrechen“ auszulagern.

Als Mitarbeiter von Sprachdienstleistern war meine Argumentationslinie für den Vertrieb immer wie folgt aufgebaut:

Übersetzung ist komplex. Wir können Sie dabei unterstützen.

Heute komme ich nicht mehr über das Wort „komplex“ hinaus, da die Kunden nicht hören wollen, wie schwierig etwas ist. Und warum sollten sie auch? Schließlich haben ihnen zahlreiche Marketingkampagnen eingebläut, dass Übersetzung einfach ist. Sie sehen dieselben Facebook-Anzeigen und YouTube-Videos wie ich und all diese Marketingmaterialien haben dieselbe Botschaft: Übersetzung ist einfach! Der Unterschied liegt darin, dass viele Kunden nicht genug Erfahrung haben, um diese Marketingaussagen kritisch zu hinterfragen.

Das sind schlechte Nachrichten für Sprachdienstleister. Kunden binden sich häufig an derartige Tools und Plattformen, da sie es einfach nicht besser wissen. Sie denken, dass es einfach wird. Doch irgendwann müssen sie sich eingestehen, dass das Tool die Erwartungen nicht erfüllen kann (zum Beispiel weil das Layout der „automatisch formatierten“ Dateien noch von Hand in Ordnung gebracht werden muss). Wenn die Einkäufer sich an diesem Punkt an einen Sprachdienstleister wenden, sind sie bereits völlig frustriert und erwarten, dass dieser sich um all diese Probleme kümmert. Das ist im Grunde völlig ok. Schließlich ist es genau das, was Sprachdienstleister tagtäglich für ihre Kunden tun: Probleme lösen. Nicht ganz so ok ist, dass die Arbeit dann genau mit demselben Tool erledigt werden soll, das die Probleme überhaupt erst verursacht hat. Häufig sind es Abonnementverträge mit langer Laufzeit oder die hohen Investitionen, die den Kunden dazu veranlassen, das Tool weiterhin nutzen zu wollen. Diese Konstellation ist für beide Seiten unglücklich.

Vielleicht bin ich nur ein alter Mann, der über alles Neue erstmal schimpfen muss. Aber ich denke nicht, dass dem so ist. Ich freue mich über neue Player in der Branche. Schließlich können wir alle hin und wieder etwas frischen Wind gebrauchen. Ich wünsche diesem neuen Unternehmen mit der aggressiven Anzeigenkampagne viel Erfolg. Ich möchte nur um eins bitten:

Macht uns bitte nichts vor.

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